Erst zahlen, dann klagen?

Sie werden ohnehin schon über Gebühr strapaziert: Sozialrentner, behinderte Menschen und nicht zuletzt die Empfänger von Arbeitslosengeld II. Ein Netz von teilweise rigiden Bestimmungen erweckt bei ihnen das Gefühl, sich am Rande der Legalität zu bewegen bzw. am eigenen Schicksal selbst Schuld zu sein. Auch hier droht eine von oben aufgezwungene Übernahme US-amerikanischer Geistes- und Lebenshaltung. "Alle Individuen sind für ihr Glück selbst verantwortlich. Hierbei handelt es sich um eine alte calvinistische Vorstellung, der zufolge Gott denen hilft, die sich selbst helfen. Diese Weltsicht ist zu einem konstituierenden Bestandteil dessen geworden, was man gemeinhin ,amerikanische Mentalität’ nennt. So kann man etwa an hand soziologischer Untersuchungen feststellen, daß Menschen, die entlassen wurden – anders als in Europa (oder gar Frankreich) – sich die Verantwortung für diese Kündigung selbst zuschreiben", bemerkte der französische Soziologie-Professor Pierre Bourdieu Ende der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.

Aus Sicht des hiesigen, mithin Washington-gläubigen Systems gibt’s noch eine letzte offene Flanke: Wer mit Zuwendungsbescheiden oder sonstigen Mitteilungen von Arbeitsagenturen u. ä. nicht einverstanden ist, besitzt die Möglichkeit des Klageweges über die Sozialgerichtsbarkeit, wobei anwaltliche und Gerichtsgebühren vom Staat getragen werden. Damit könnte jedoch bald Schluß sein. Am Mittwoch, 16. Mai 2007, erarbeiteten die Präsidenten der Landessozialgerichte (LSG) auf ihrer Jahreskonferenz in Uhldingen-Mühlhofen einen möglicherweise folgenschweren Vorschlag: Er betrifft die zeitlich befristete Einführung von Gebühren im Rahmen von Sozialgerichtsverfahren. Angedacht sind gestaffelte, auf die gerichtliche Ebene bezogene "Preise": 75 Euro für die erste, 150 in der zweiten und 225 Euro in der dritten Instanz - um es wünschenswert klar auszudrücken: Die Aufwendungen sind vom Kläger selbst aufzubringen. Worthülsenhaft verpackt, ist von einer "Experimentierklausel" die Rede.

Unmittelbarer und äußerer Anlaß für das perfide Ansinnen ist die seit Einführung der Hartz-IV-Gesetzgebung immens gestiegene Flut an Prozessen. Durch Umstrukturierungen bzw. Neuzuweisungen von Fallkategorien sind die SG-Strukturen tatsächlich derart überlastet, daß Richter aus anderen Bereichen herangezogen werden mußten. Verschärft wird das Arbeitsaufkommen der SGe durch mit dem Hartz-Murks verbundene fehlerhafte Bescheide.

Marianne Saarholz, Vizepräsidentin des Sozialverbandes Deutschland (SoVD), bezeichnete die "Experimentierklausel" zu Recht als "Einfallstor für Gebühren“. Hervorgehoben wird die „existenzielle Bedeutung" der Sozialgerichtsbarkeit "für Millionen von Bundesbürgern". Eine Gebühreneinführung "hätte zur Folge, daß sich gerade die Menschen, die am meisten auf die Rechtssprechung angewiesen sind, ein Verfahren nicht mehr leisten können." Gerade die Urteile zum Arbeitslosengeld II zeigten, "daß die Sozialgerichtsbarkeit eine wichtige und notwendige Kontrollfunktion gegenüber dem Gesetzgeber und den Arbeitsagenturen ausübt." Die gestiegenen Fallzahlen gerade im Bereich ALG II "sind in erster Linie auf handwerkliche Mängel der Gesetzgebung und fehlerhafte Bescheide der Arbeitsagenturen zurückzuführen."

Der SoVD werde sich zudem "weiterhin für eine personell angemessen ausgestattete und eigenständige Sozialgerichtsbarkeit" einsetzen. Auch werde begrüßt, "daß sich auch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales für die Erhaltung eigenständiger Sozialgerichte ausgesprochen hat", erklärte Frau Saarholz abschließend, politisch überaus korrekt und entschuldigend – sie kann als Teil des Systems halt einfach nicht anders, als einen anderen Teil des Systems zu loben. Bislang hat genanntes BM noch immer die Hacken zusammengeknallt, wenn es um die Aushöhlung letzter Elemente von Sozialstaatlichkeit geht.
Sollte die "Experimentierklausel" im Bundestag durchgewunken werden, mutieren die Arbeitsagenturen endgültig zu Disziplinierungs-Anstalten für die industrielle Niedriglohn-Reservearmee, zu der auch künftig massenhaft Fremde aus aller Herren Länder stoßen sollen – ganz im Sinne der Globalisierer mit ihrem extremistischen Freihandels- und Freizügigkeitsdenken.

Andererseits kommt der Vorstoß der Landessozialgerichte so überraschend nicht: Am 13. Oktober 2006 wurde im Bundesrat u.a. ein Entwurf zur "Vereinfachung" der Sozialgerichtsgesetzgebung mehrheitlich beschlossen. Hamburg und Niedersachsen, beide CDU-regiert, hatten zuvor entsprechende Initiativanträge gestellt.

Neben der Erschwerung einer Anwendung des Rechtsmittels Berufung fand auch besagte Gebührenpflicht Aufnahme ins Abwicklungsprogramm. Angedacht ist zudem ein Anwaltszwang in der zweiten Instanz, so man diese denn überhaupt erklimmt. Von diesen Fakten erfuhren die Bürgerinnen und Bürger übrigens so gut wie nichts – und das in einem Staat, dessen Verantwortliche tagein, tagaus von der "Transparenz von Entscheidungen" faseln.

Der NPD-Landtagsabgeordnete und Jurist, Michael Andrejewski, zu dessen Arbeitsgebiet auch die Hartz-IV-Gesetzgebung gehört, erklärte zu dem neuerlichen Versuch, die Rechte finanziell schlechtgestellter Menschen zu beschneiden:

"Wie auf allen Gebieten schafft der Staat mit unglaublichem Tamtam Sozialstandards, die er als Errungenschaften verkauft. Im stillen Kämmerlein werden dann Hürden aufgebaut, die das als Errungenschaft Verkaufte konterkarieren, indem Betroffene, die ohnehin nur über knappe Geldmittel verfügen, bei der Wahrnehmung ihrer letzten Rechte zur Kasse gebeten werden. Es handelt sich schlichtweg um Verlogenheit mit einer nach außen getragenen sozialen Komponente. Wenn man aber ins Detail geht, sieht es anders aus – ich erinnere nur an Krankenhaus-, Rezeptgebühr, Zuzahlungen in der Zahnmedizin. Es ist eine heuchlerische Politik, die die Einkommensschwachen noch mehr vor den Kopf stößt, jene also, die ohnehin schon von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind. Wir Nationaldemokraten als Fundamentalopposition werden uns gegen dieses perfide und zynische Spiel zur Wehr setzen."
zurück | drucken Erstellt am Montag, 21. Mai 2007