Der Wunsch war wieder mal Vater des Gedankens

In der 19. Sitzung des Landtages erhielt der NPD-Abgeordnete Tino Müller wegen der Verwendung des Wortes "Volksgenosse" in seiner Rede einen Ordnungsruf.

Im Zusammenhang mit einem Antrag der PDS sprach der volkstreue Abgeordnete aus dem Uecker-Randow-Kreis davon, daß die Antragsteller "nicht an unsere deutschen Volksgenossen" denken würden. Sofort setzten Pawlowsche Reflexe bei den Etablierten ein - besonders bei der PDS - und ein ohrenbetäubendes Geschrei durchdrängte den Sitzungssaal. Wie konnte es der NPD-Abgeordnete Müller auch wagen, von Volk und schlimmer noch, von Volksgenossen zu sprechen. Das wollte irgendwie gar nicht in die Multi-Kulti-Vorstellungswelt der volksvergessen Blockparteien passen.

Vizepräsidentin Holznagel (CDU), die zu dem Zeitpunkt die Sitzung geleitet hatte, reagierte zunächst nicht und machte auch nicht den Anschein, als wenn sie vorhätte, etwas zu unternehmen. Erst auf Zurede von Hans Pommerening (Leiter des Parlamentssekretariats) und der PDS-Abgeordneten Schwebs, die zu dem Zeitpunkt Schriftführerin im Präsidium war, unterbrach sie den Abgeordneten Müller in seiner Rede und erklärte, daß ein solches Vokabular nicht der Würde des Hohen Hauses entsprechen würde – einen Ordnungsruf erteilte sie zunächst nicht. Statt dessen sprach sie davon, daß man prüfe, ob das Wort "Volksgenosse" nicht "verfassungswidrig" wäre. Hier war wohl wieder einmal mehr der Wunsch Vater des Gedankens. Nur zu dumm, daß das Wort "Volksgenosse" sogar in Bibel-Übersetzungen zu finden ist. Ein wahrhaft verfassungswidriges Buch mit ganz schauderhaftem Vokabular.
Seinen Ordnungsruf erhielt der Abgeordnete Müller später dann doch noch für das Wort "Volksgenosse" natürlich wieder mit dem Hinweise der verfassungsrechtlichen Prüfung des Begriffes - wie immer nichts weiter als heiße Luft!

Gegen den Ordnungsruf legte Müller natürlich trotzdem Einspruch ein. In der Begründung seines Widerspruches heißt es unter anderem:

"[…] Der Lehrer und Historiker Manfred Müller beschäftigte sich in den achtziger und neunziger Jahren intensiv mit der regionalen Geschichte des Raumes Rheydt-Neuss-Mönchengladbach, eine Gegend, die bis in unsere Tage stark katholisch geprägt ist und bis 1933 als eine der Hochburgen der Zentrumspartei war.

Da selbst mit einem stark katholischen Hintergrund versehen, wuchs in Müller um so mehr das Interesse an einer Aufarbeitung auch der katholisch-religiösen und –politischen Strukturen. Im Rahmen seiner Forschungen stieß er auch auf die Worte "Volksgenosse" oder "Volksgemeinschaft"

Die Begriffe können als unmittelbarer Ausfluß der katholischen Soziallehre gelten und wurde bereits im Kaiserreich wie selbstverständlich auch und gerade in Broschüren und Redebeiträgen des politischen katholischen Lagers verwendet.

Überhaupt spielt der Begriff "Volksgenosse" in Teilen der christlichen Welt, so beispielsweise in Bibel-Übersetzungen, eine nicht zu überlesende Rolle.

Ein verhältnismäßig aktuelles Beispiel bietet die Evangelisch-Reformierte Kirche Affoltern am Albis (Schweiz). Unter der Leitzeile "Der Schöpfer ist nicht am Ende" finden sich auf der Weltnetzseite (www.ref.ch/affoltern/predigt_33.htm) "Gedanken zur Jahreslosung 2007" in Gestalt einer Lesung/Predigt aus Jesaja 43 14-21.

Gestatten Sie mir im folgenden das Zitieren von zwei Passagen. Hintergrund ist die Eroberung von Jerusalem durch die Babylonier:
"… Sie händ die alte Gschichte nöd vergässe, wie Gott scho ihri Müetere und Vättere emal us de Gefangenschaft befreid hät. Wie Gott ihne en Wääg dur s Meer baanet häd und si grettet häd vor em aegyptische Heer. Eine vo dene Bube, häd ganz fasziniert zuegloset. Und als junge Ma, gspüürt er es Füür in siich. Er wird Profet. De Jesaja.
Er rüttlet sini Volksgenosse in Babylon wach. Die träumed nümlich nume vonere heile Welt …" – Vom Schwyzerdütsch ins Hochdeutsche übersetzt, heißt es also: "Sie hatten die alte Geschichte nicht vergessen, wo Gott schon einmal ihre Mütter und Väter aus der Gefangenschaft befreite. Wie Gott ihnen einen Weg durchs Meer gebahnt und sie gerettet hatte vor einem ägyptischen Heer. Einer von den Buben hatte ganz fasziniert gelauscht. Und als junger Mann spürte er es in sich – er wird Prophet, der Jesaja."

An anderer Stelle heißt es: "De Jesaja weckt sini Volksgenosse auf. Er rüttlet si wach. Lönd eu doch nöd entmuetige und lääme vo dem , wo verbii und vergange isch. …" – Jesaja rüttelt also die Volksgenossen wach und sagt: Laßt euch doch nicht entmutigen und lähmen von dem, was vorbei und vergangen ist.

Die Netzpräsenz "life-is-more.at", erstellt von einer christlichen Jugendgruppe aus Wien, enthält die verschiedenen Bücher von Altem und Neuem Testament. Im 3. Buch Mose (Levitikus) , Kapitel 5, 21 finden wir in der Übersetzung, die den jungen Leuten vorlag: "Wenn sich jemand dadurch versündigt und vergreift am HERRN, daß er seinem Volksgenossen etwas Anvertrautes oder Hinterlegtes ableugnet oder gewalttätigerweise raubt …" (Es geht um Anweisungen des HERRN an Mose).

Es dreht sich hier weniger um Zusammenhänge, die ich ja durchaus darstellte, als vielmehr um die Nennung dieses Begriffes – in diesem Fall durch in der Jetztzeit aktive christliche Kreise.

"Weltliche Wurzeln" hinsichtlich einer Begriffsbestimmung finden sich beim "Vater der deutschen Soziologie" Ferdinand Tönnies (1855 – 1936). Eines von Tönnies’ bekanntesten Werken heißt "Gemeinschaft und Gesellschaft" (1878 erstmals erschienen). Der Sozialdemokrat unterschied modellhaft zwischen einem Akteur, der sich einem Kollektiv im Sinne einer größeren Gemeinschaft zugehörig fühlt (er nannte dies Wesenwille) und einem zweiten, der am Kollektiv als einer reinen Zweckgemeinschaft partizipiert; als Beispiele nannte er eine "Gelehrtenrepublik" und Aktien-Gesellschaften. Sie sehen – die Thematik ist so oder so noch aktuell.

Die im Kaiserreich entstandene und vielfältige Jugendbewegung nahm ihn ebenfalls auf, wobei "Volksgenosse" im Sinne einer Bewußtseinsweckung für die Zugehörigkeit zu einem Volk, i. d. F. zum deutschen, gemeint war. Dies, so die Überzeugung, lasse sich am besten durch die Rückkehr zum natürlichen, ländlichen und kleinteilig geprägten Leben als Gegensatz zur als "völkerverschlingend" bezeichneten Urbanisierung und "Anonymisierung" (als unmittelbare Folge der Industrialisierung) erreichen.

Weiterhin wohnt dem Begriff, und das soll hier gar nicht abgestritten werden, der Wille zur Abgrenzung inne, will sagen: Auch in den Grenzland- und Volkstumskämpfen der K. u. K.-Monarchie, also vor 1918/19, spielte er eine Rolle. Die Deutschen in Böhmen beispielsweise gründeten sogenannte Tafelgesellschaften, in denen die alten Bräuche gepflegt wurden. Volksgenosse meint auch hier: Wille zum Erhalt der Identität durch Besinnung auf Wurzeln im Sinne eines geistig-kulturellen Erbes. Er bedeutet nicht Haß oder Überheblichkeit, sondern im Gegenteil das Wissen um die Bedeutung von Vielfalt auf dieser Welt. Herder formulierte einst: "Völker sind Gedanken Gottes".

Desweiteren läßt sich gegenseitige Achtung am besten durch räumliche Distanz erreichen, wenn also jeder Ethnie ihr Territorium zur Verfügung steht, um so gar nicht erst das Gefühl von Enge, Fremdheit und womöglich Haß aufkommen zu lassen.

National eingestellte Menschen, so auch ich, stehen aus diesen Gründen für den Erhalt der Nationen eben nicht nur als bloße Wirtschaftsstandorte, wie es den Globalisierern aller Couleur vorschwebt, sondern als Hort der Überlieferung und Bewahrung eines geistig-kulturellen Erbes sowie des Volkes als geschichtlich gewachsenes Subjekt.

Diese Ausgangsposition schließt gerade wirtschaftliche Kontakte (z. B. auf der Basis genau definierter bilateraler Veträge) in keiner Weise aus, sondern macht diese sogar berechenbarer. […]"

zurück | drucken Erstellt am Freitag, 22. Juni 2007