Krank durch „freies Spiel der Kräfte“

Es ist ein Thema, über das wohl niemand gern redet – Suizid. Jahr für Jahr setzen Menschen ihrem Leben ein Ende.

Kaltes Amtsdeutsch: „Vorsätzliche Selbstbeschädigung“

So wie jüngst im Ostseebad Zingst, als ein 47 Jahre alter Mann sich in seinem Auto auf einem Feldweg in der Sundischen Wiese erschoß. Eine Übersicht zu den „Gestorbenen durch vorsätzliche Selbstbeschädigung“, so die Bezeichnung in kalt klingendem Amtsdeutsch, ist in einer Kleinen Anfrage der NPD-Landtagsfraktion enthalten. Sie betrifft die Jahre 2000 bis 2008 (Drucksache 5/3090). Zu berücksichtigen ist dabei, daß die Bevölkerung im Nordosten der BRD seit 1990 Jahr für Jahr abnahm: Von rund 1.892.000 (1991) auf zirka 1.664.000 im Jahr 2008.

Eine Journalistin der Norddeutschen Neuesten Nachrichten führte kürzlich zum Thema ein Gespräch mit einer Fachkapazität: Auskunft gab die Privatdozentin Dr. Jacqueline Höppner, kommissarische Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Rostock-Gehlsdorf. „Gründe für einen Suizid sind selten Lebenskrisen allein“; gerade einmal fünf bis zehn Prozent der Selbsttötungen würden aus einer solchen Situation heraus begangen. Häufig seien dagegen psychische Erkrankungen als Ursache von Suiziden anzusehen: psychotische, depressive und Abhängigkeitserkrankungen sowie chronische Schmerzen und gehäufte körperliche Erkrankungen.

Risikofaktoren: Einsamkeit, Erkrankungen, fehlende Perspektive

Als eine Risikogruppe benennt Frau Dr. Höppner Menschen in höherem Lebensalter, die vereinsamt leben und an vielen körperlichen Erkrankungen leiden. Eine zweite seien Menschen mit psychischen Störungen, vor allem, wenn sie zusätzlich mit einer schwierigen Lebenssituation zu kämpfen haben: Einsamkeit, Schmerzen, aber auch fehlende berufliche Perspektive.
Man könnte auch sagen: Bei ohnehin seelisch angeschlagenen Menschen entsteht eine Diskrepanz zwischen der offiziellen Darstellung der wirtschaftlichen Lage und dem eigenen Erleben. Ein übriges tut das turbokapitalistische System, das immer mehr Menschen – bis hinein in den Mittelstand – der Verelendung preisgibt.

Erschreckende Zunahme der Frührentner

Doch auch ohne die nähere Betrachtung von Suiziden ist die Lage dramatisch. Die deutsche Versicherungswirtschaft wies vor einem Jahr darauf hin, daß seelische Erkrankungen die häufigste Ursache für Berufsunfähigkeit sind. Auf www.versicherung.de vom 15. April 2009 heißt es dazu: „Für 27 Prozent der männlichen und 38 Prozent der weiblichen Frührentner war dies der Grund, aufzuhören. Alarmierend: Auslöser ist immer öfter die Arbeit selbst.“

Experten zufolge spielten „bei der Zunahme seelischer Erkrankungen, wie Depressionen vor allem psychische Belastungen am Arbeitsplatz wie starker Termin- und Leistungsdruck, geringe Handlungsspielräume oder die Arbeitsplatzunsicherheit eine große Rolle. Mit der Globalisierung sind die psychischen Anforderungen in der Arbeitswelt allgemein gestiegen.“

Verausgabung hoch, Belohnungsmöglichkeiten gering

„Wissenschaftler betonen, daß schädlicher Stress vor allem dann entsteht, wenn eine hohe Verausgabung mit geringen Belohnungschancen verbunden ist. Umgekehrt erachten sie eine ideelle Wertschätzung für mindestens so wichtig wie die finanzielle Anerkennung.“ Mit anderen Worten: Aufwand und Nutzen stehen oftmals in keinem realen Verhältnis. „Psychische Probleme sind in Deutschland inzwischen die vierthäufigste Diagnose bei Krankmeldungen. Wer depressiv wird, fällt zudem länger aus, als anderweitig Erkrankte. Viele kehren gar nicht in den Beruf zurück. Damit sind dann auch große Herausforderungen an die finanzielle Versorgung geknüpft.“

Suizide und Depressionen, die zur Inanspruchnahme der Frührente führen – hier erst entsteht das Gesamtbild von einem System, das, weil es vornehmlich US-Interessen dient, in der ganzen Gestaltung auch der Arbeitswelt immer amerikanischer wird. Erst eine sozial und national ausgerichtete Ordnung wird hier entsprechende Abhilfe schaffen, da sie sich an etwas Naturgesetzlichem, mithin den Bedürfnissen des Volkes orientiert, egal ob nun im erziehungs- und bildungspolitischen, wirtschaftlichen oder im kulturellen Bereich.

zurück | drucken Erstellt am Mittwoch, 17. März 2010